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Lernschwächen – Wenn Buchstaben und Zahlen krank machen

Leben

Veröffentlicht am 24.08.2018

Immer mehr Schüler haben Probleme beim Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen. Die Kinder werden dann oft als dumm abgestempelt. Dabei liegen die Ursachen für eine sogenannte Teilleistungsstörung oft viel tiefer.

Stellt euch den Matheunterricht in einer Grundschule vor: Ein Viertklässler wird von seinen Mitschülern ausgelacht, weil er denkt, 50 Cent seien mehr als zwei Euro. In einer dritten Klasse steht ein Mädchen weinend vor der Tafel. Sie versteht nicht, warum es „Vater“ und nicht „Fata“ heißt und wird schon wieder vom Lehrer ausgeschimpft.

Solche Situationen sind in deutschen Schulen keine Seltenheit, weiß Mario Cordes. Der Lerntherapeut leitet ein Institut für Lerntherapie in Cottbus. Zu ihm kommen verzweifelte Eltern und überforderte Schüler, die selbst mit Nachhilfe keine besseren Noten vorweisen können. Der Grund für das Versagen im Rechnen, Lesen und Schreiben sind oft sogenannte Teilleistungsstörungen, die sich in der Grundschule ausprägen. Experten verstehen darunter Leistungsverluste, die trotz ausreichender Intelligenz, regelmäßiger Förderung und körperlicher Gesundheit auftreten.

Nerven funktionieren nicht richtig

Aber warum? Rechnen, Lesen und Schreiben sind komplexe Denkvorgänge, bei denen immer mehrere Bereiche des Gehirns arbeiten. Bei einer Teilleistungsstörung funktionieren bestimmte Nervenverbindungen im Gehirn nicht richtig. Dadurch werden auch die Denkprozesse verlangsamt. Daraus folgt ein eingeschränktes Verständnis für Zahlen und Mengen, sowie für Silben- und Wortbildung. Die Kinder erkennen ihre Wissenslücken meistens nicht und suchen unbewusst nach anderen Lösungswegen. Diese alternativen Wege sind für das Umfeld unlogisch und führen schließlich auch zu falschen Ergebnissen. „Dieser Effekt macht sich in der Grundschulzeit bemerkbar und kann sich zu einer Teilleistungsstörung entwickeln“, erklärt Mario Cordes vom Lerninstitut.

Tägliches Üben reicht in solchen Fällen nicht aus – es kann die Situation sogar noch schlimmer machen. Denn der Spott von den Mitschülern kann zu schweren seelischen Schäden führen. „Kinder mit Teilleistungsstörungen haben ein angeknackstes Selbstbewusstsein. Damit überhaupt wieder etwas Neues gelernt werden kann, muss erst wieder Selbstbewusstsein aufgebaut werden“, sagt Mario Cordes. Zusätzlich bekommen die Kinder oft auch noch Übelkeit, Bauch- und Kopfschmerzen, wodurch der Schulalltag auf lange Sicht zur Qual wird. Im Erwachsenenalter kann daraus sogar eine Depression werden.

Schwierige Ursachenforschung

„So etwas hat es doch früher nicht gegeben“, das hören die Lerntherapeuten oft. Denn Lese- und Rechenprobleme werden gern als Modekrankheiten abgestempelt. „Es hat schon immer Menschen gegeben, die langsamer lernen als andere, das ist nichts Neues“, erklärt Mario Cordes. Teilleistungsstörungen können genetisch bedingt sein. Oft liegen ihre Ursachen aber in der Umwelt des Kindes, die vor allem durch die Eltern und den Schulalltag geprägt ist.

Die Grundschullehrerin Heike Rocho ist auf Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) spezialisiert. Sie weiß, wie man das Problem angehen muss: „Bis vor sechs Jahren gab es noch LRS-Klassen in Brandenburg mit höchstens zehn Schülern pro Klasse, um die Kinder individuell zu fördern. Das war gut und sinnvoll. Die Klassen wurden aber abgeschafft, weil dieser Unterricht nicht mehr finanziert wurde“, sagt sie.

Lerntherapien können helfen

Die Lerntherapien, die es heute gibt, werden nie in der Gruppe, sondern immer in Einzelsitzungen durchgeführt. Dadurch sinken der Druck und die Angst vor dem Versagen, erklärt Juliane Sauer. Die 29-Jährige therapiert Kinder der zweiten und vierten Klasse, die Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen haben. „Die Atmosphäre ist hier eine andere als in der Schule. Die Kinder können in der Therapie schneller Vertrauen fassen und wir können sie dann mit spielerischen Übungen an die richtige Denkweise heranführen“, berichtet sie. Das falsch erlernte System muss aufgebrochen werden, um dem Schüler an genau dem Punkt zu helfen, an dem er den Anschluss verloren hat. „Sobald die Kinder wieder erste Fortschritte machen, erinnern sie sich wieder daran, dass Lernen nichts Schlimmes ist, sondern sogar Spaß macht.“